Stiftungsengagement

Totgesagte leben länger

27.08.2024   Lesezeit: 16 min

Ein Hof im Rheinischen Braunkohlerevier und die Stiftung medico: ökosoziale Arbeit im Herzen der Klimakrise. Eine Reportage von Ramona Lenz.

Das Navigationsgerät leitet über schmale teils nicht für den öffentlichen Verkehr freigegebene Feldwege und Nebenstraßen nach Berverath. Überraschend viele Autos sind hier unterwegs, kein Grund also am Navi zu zweifeln. Schließlich das Ortschild. „Die haben mal wieder die Straße gesperrt“, erklärt die einzige Fußgängerin weit und breit kopfschüttelnd. „Deswegen wird der ganze Verkehr im Moment durch Berverath geleitet.“ „Die“ – das ist der Energiekonzern RWE, dem nicht nur der Großteil der Häuser und Felder in der Gegend gehören, sondern auch Straßen wie die L12, die an Berverath vorbeiführt und derzeit offenbar gesperrt ist. Das kleine von Landwirtschaft geprägte Dorf liegt abseits der Hauptverkehrswege mitten im Rheinischen Braunkohlerevier und ist ebenfalls größtenteils im Besitz von RWE. Wenn es nach dem Energiekonzern ginge, sollte Berverath genau wie die vier benachbarten Ortschaften Keyenberg, Kuckum, Oberwestrich und Unterwestrich, die alle der Stadtverwaltung von Erkelenz zugeordnet sind, schon bald komplett von der Landkarte verschwunden sein, um Platz zu machen für die Grube des Tagebaus Garzweiler II.

Zu diesem Zweck erhielt Berverath am 1. Dezember 2016 „Umsiedlerstatus“. Ab diesem Zeitpunkt waren die Eigentümer:innen der rund vierzig Gehöfte und Wohnhäuser in Berverath gezwungen, Grundstücke und Gebäude an RWE zu verkaufen und wegzuziehen, wenn sie nicht zwangsenteignet werden wollten. Viele haben das auch getan. Wenn man nun durch das Straßendorf läuft, kommt man an zahlreichen leerstehenden und verfallenen Häusern vorbei, die Briefkästen sind zugeklebt, die Fenster verstaubt und aus allen Ecken und Ritzen sprießt Wildkraut. Die relativ vielen Fahrzeuge, die man im Ort sieht – darunter auch welche mit der Aufschrift „Industrie- und Werkschutz“ –, nutzen Berverath lediglich zur Durchfahrt.

Der Schwalbenhof

Doch auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht nicht so scheint: Berverath lebt. In unmittelbarer Nähe zu der inzwischen entweihten kleinen Kapelle in der Dorfmitte befindet sich der Schwalbenhof, einer der ältesten Höfe des Dorfes, gebaut aus für die Region typischem rotem Backstein. Da es hier nur drei Straßen gibt, die alle an der Kapelle zusammenlaufen, genügt eine Nummer als Adresse: Berverath 2. An dem großen dunkelgrün gestrichenen Holztor hängt noch die Ankündigung eines Workshops, der hier kürzlich stattfand: „Werde Stammtischkämpfer*in! Schnell und gezielt auf rechte und rassistische Parolen reagieren!“ Durch das offene Tor gelangt man in einen schattigen Vierseitenhof, in dem mehrere gemütliche Ecken zum Sitzen und Verweilen einladen. Hinter dem Gebäude erstreckt sich ein großer Garten, in dem zwei Ponys, zwei Ziegen, ein Hahn und ein Huhn ihren Lebensabend verbringen, dazwischen Tía, eine freundliche schwarze Hündin aus dem Tierschutz. Über Felder und Wiesen reicht der Blick weit bis zum Horizont. Heraus ragt der Kirchturm des Nachbarortes – und der Schaufelradbagger der Grube Garzweiler II.

„Der Schwalbenhof ist vielleicht 800 Meter von der Abbruchkante entfernt“, erzählt Avril Luis Diehl. „Seit Jahren sind die Arbeiten im Tagebau hier zu hören.“ Avril wohnt auf dem Schwalbenhof, genauso wie Ole Naus mit seinem Sohn und Dorothée Laumanns, die sich als Doro vorstellt und ebenfalls mit ihrem Sohn hier lebt. Doro ist in Berverath aufgewachsen und seit ihrer Kindheit mit dem Kampf um ihr Zuhause beschäftigt. Sie erinnert sich daran, schon als 6jährige an Demonstrationen zum Erhalt der Dörfer um Erkelenz herum teilgenommen zu haben. „Ich bin mit dem Gedanken groß geworden: Wir müssen hier weg“, erzählt sie. In Doros Kindheit hieß der Konzern, gegen den die Dorfbewohner:innen protestierten, noch Rheinbraun. Braunkohleabbau für die Elektrizitätsversorgung wird in der Region bereits seit 1910 betrieben. Der Umweltschutzorganisation BUND zufolge haben in den vergangenen Jahrzehnten mehr als 40.000 Menschen im Rheinland ihre Häuser für den Tagebau verlassen müssen; deutschlandweit sind es seit Beginn des 20. Jahrhunderts sogar über 100.000. Mehr als 300 Dörfer wurden insgesamt für den Kohleabbau zerstört.

Lützerath: Die Klimabewegung kommt

So sollte es auch Berverath und seinen knapp 120 Einwohner:innen ergehen. Viele waren erschöpft vom jahrzehntelangen Bangen um ihr Zuhause und nahmen irgendwann die angebotenen Entschädigungszahlungen an. In der Annahme, dass die Devastierung Berveraths nach Erhalt des „Umsiedlerstatus‘“ nur eine Frage weniger Jahren sein würde, verkauften sie ihre Häuser und Grundstücke und zogen in das wenige Kilometer weiter errichtete Neubaugebiet „Berverath (neu)“ oder woanders hin. Auch Doros Mutter, der der Hof unmittelbar neben dem Schwalbenhof gehörte, der seit Generationen im Familienbesitz war, entschied sich zu verkaufen und nach Neu-Berverath zu ziehen. Doro, die auf dem nun RWE gehörenden Hof groß geworden ist und nach einiger Zeit im Ausland wieder nach Berverath zurückkehrte, hat dafür Verständnis. Sie selbst will aber unter keinen Umständen mehr weg von hier.

Und dann wendete sich das Blatt. Ermutigt vom erfolgreichen Kampf um den Hambacher Forst, dessen Rodung 2019 gestoppt werden konnte, wandte sich die deutsche Klimabewegung den rund zwanzig Kilometer weiter nördlich gelegenen Ortschaften im Rheinland zu, die genau wie der Wald für den Braunkohleabbau zerstört werden sollten. Die Aufmerksamkeit richtete sich insbesondere auf Lützerath, das direkt an der Grube lag und als nächstes weggebaggert werden sollte. Aus dem Schlachtruf „Hambi bleibt“ wurde „Lützi bleibt“. Klimaschützer:innen aus ganz Deutschland kamen, um gemeinsam mit den von Garzweiler II unmittelbar betroffenen Menschen für den Erhalt ihrer Dörfer im Rheinland zu kämpfen. Im September 2020 fragte das Nachrichtenmagazin Spiegel: „Entsteht hier ein neuer Wallfahrtsort der Klimabewegung?“

Eine ökogische Katastrophe

Claudia Bock würde sagen: Ja! Sie wohnt nicht direkt im Kohlerevier, gehört aber zum Unterstützerkreis des Schwalbenhofs. Auch wenn sie nicht unmittelbar betroffen ist, ist ihr der Kampf gegen den Braunkohleabbau ein Anliegen: „Es geht nicht nur um den Erhalt der Dörfer. Wir haben es hier mit einer ökologischen Katastrophe von enormem Ausmaß zu tun“, erklärt sie. Bereits vor Jahrzehnten hat Claudia am Frankfurter Flughafen gegen den Bau der Startbahn West protestiert. Mit ihrem Mann zusammen habe sie dann zu den ersten gehört, die sich gegen die Zerstörung von Lützerath und die Vertreibung seiner Bewohner:innen durch den Tagebau organisiert hätten. Gern erinnert sie sich daran, wie sich ihnen immer mehr Menschen anschlossen, schließlich auch Aktivist:innen aus ganz Deutschland, von denen sie etliche bei sich zu Hause beherbergte. Man vernetzte sich mit dem deutschlandweiten Bündnis „Alle Dörfer bleiben“, in dem Betroffene aller deutschen Braunkohlereviere, die Klimagerechtigkeitsbewegung sowie solidarische Bürgerinnen und Bürger gemeinsam gegen Zwangsumsiedlung und Klimazerstörung kämpfen. Der Schwalbenhof wurde in dieser Zeit zu einem wichtigen Treffpunkt der lokalen wie deutschlandweiten Protestbewegung. Es war zugleich ein Ort, wo die Aktiven zur Ruhe kommen konnten und wo zahlreiche Freundschaften zwischen Menschen aus der Region und von außerhalb entstanden.

Zehntausende Aktivist:innen, deren übergeordnetes Anliegen die Einhaltung der Klimaziele und der Ausstieg aus der Nutzung fossiler Brennstoffe ist, kämpften nun für den Erhalt von Lützerath, das zum Symbol der Klimakrise geworden war. Retten konnten sie den Weiler jedoch nicht. Obwohl die Kohle unter Lützerath für die Energiesicherheit vermutlich überhaupt nicht benötigt wird, wurden die Aktivist:innen Mitte Januar 2023 mit brutaler Polizeigewalt vertrieben und der Weiler unmittelbar danach abgerissen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur hatten wenige Monate zuvor einen Deal mit RWE ausgehandelt: Das bereits unbewohnte Lützerath wird wie geplant dem Kohleabbau geopfert. Dafür wird der Kohleausstieg im Rheinland von 2038 auf 2030 vorgezogen und die eigentlich schon aufgegebenen Ortschaften Keyenberg, Kuckum, Oberwestrich, Unterwestrich und Berverath bleiben erhalten.

Gerettet – und jetzt?

Nach der Devastierung Lützeraths und der Rettung der anderen Dörfer zerstreute sich die Klimagerechtigkeitsbewegung wieder und die Aktiven, die vor Ort blieben, weil sie dort wohnen oder weil sie aus anderen Gründen vor Ort etwas bewegen wollen, brauchten Zeit, um wieder Kräfte zu sammeln. Denn: „Es war wichtig, um jedes Haus hier zu ringen“, wie Doro betont, „aber mit der Rettung von ein paar Dörfern ist es keineswegs getan. Was heißt überhaupt gerettet?“ Die ökologischen und sozialen Schäden, die der Bergbau über die Jahrzehnte angerichtet hat, sind immens.

„Für den Tagebau wird massiv Grundwasser abgepumpt“, erklärt Avril. „Überall sind Pumpstationen, damit die Grube nicht vollläuft. Dadurch sinkt der Boden ab und es entstehen Schäden.“ Entschädigungszahlungen dafür seien aber schwer zu erstreiten. Das Problem sei die Nachweispflicht. Gutachten sind teuer und oft gibt es Gegengutachten, die sie widerlegen. Jenseits von Schäden an Privateigentum ist überdies die Frage offen, wer für die so genannten Ewigkeitsschäden aufkommt, die der Bergbau durch Grundwasserentnahme und die Zerstörung landwirtschaftlicher Flächen angerichtet hat. Werden sie auf die Allgemeinheit umgelegt? Was passiert, wenn die Tagebaue stillgelegt sind? Wer kümmert sich dann um die zerstörte Natur und Kulturlandschaft? Was ist mit den enormen CO2-Emissionen, die das Klima auch nach dem Ende der Braunkohleförderung nachhaltig zerstört haben werden?

Von der Kohlegrube zum Restlochsee

Wie auch in den anderen deutschen Kohlerevieren gibt es für Garzweiler Pläne, nach dem Ende der Kohleförderung die Grube teilweise aufzuschütten und das Restloch zu fluten. In ungefähr vierzig Jahren soll dann dort ein „Tagebaurestloch-See“ entstehen. Das sieht der 1995 erstellte Braunkohlenplan der Landesregierung NRW für Garzweiler vor, an den sich RWE bei der Stilllegung des Tagebaus halten muss. Gut möglich, dass Lützerath letztlich nicht wegen der Kohle in seinem Boden weichen musste, sondern um Abraum zu gewinnen und die absturzgefährdete steile Abbruchkante für die spätere Nutzung als See abzuflachen. Gefüllt werden soll das Restloch mit Wasser aus dem Rhein. „Als man diese Pläne gemacht hat, war die Klimakrise noch nicht so weit fortgeschritten wie heute“, meint Claudia. „Inzwischen ist der Pegelstand im Rhein so niedrig, dass es ganz und gar nicht ratsam erscheint, daraus Wasser für den See umzuleiten.“ Avril ergänzt: „Außerdem weiß man noch gar nicht, ob in einen solchen See nicht viel zu viele Giftstoffe aus der vom Tagebau aufgewühlten Erde gelangen würden, als dass es ein Badesee oder ein gesundes Ökosystem werden könnte.“ Doro fürchtet, dass der geplante See die Grundstücks- und Immobilienpreise steigen lässt, so dass sie nur für Reiche erschwinglich sein werden. Alle haben allerdings große Zweifel, dass es diesen See, für dessen Schaffung RWE verantwortlich ist, tatsächlich eines Tages geben wird.

Wieviel ist eine Kindheitserinnerung wert?

Die Umwelt- und Klimaschäden durch den Tagebau sind gravierend. Nicht weniger gravierend sind die sozialen Erosionen, die Jahrzehnte des Drucks und der Ungewissheit in der Bevölkerung hinterlassen haben. Spätestens seit Berverath den Umsiedlerstatus erhielt und RWE Anreize schuf, dass die Bewohner:innen wegziehen, war das Dorf gepalten: Es gab die einen, die sich trotz allem nicht vertreiben lassen wollten, und die anderen, die genug hatten von der Planungsunsicherheit und sich auf die Angebote einließen. Es habe zwar ein Verfahren mit Bürgerbeteiligung im Vorfeld der Umsiedlung gegeben, erinnert sich Doro, aber mit echter Beteiligung habe das nichts zu tun gehabt. Was geschehen sollte, stand längst fest, geregelt von Bergrecht und Braunkohlenplan. Die Einbeziehung der Bürger:innen sah so aus: „Nachdem Berverath Umsiedlerstatus hatte, konnten die Bewohner:innen sich auf dem Bebauungsplan für Neu-Berverath ein Grundstück aussuchen. Wenn mehrere sich für dasselbe interessierten, hielt RWE sich raus und sagte: ‚Klärt das unter euch!‘“ RWE habe so behaupten können, die geforderte Bürgerbeteiligung zu gewährleisten, dabei aber viele Konflikte zwischen den Bewohner:innen ausgelöst und sich aus der Verantwortung gezogen, meint Doro. Was die Bewohner:innen für ihre alten Häuser und Grundstücke erhielten, war sehr unterschiedlich je nach Größe, Zustand und Nutzung und nicht transparent. Vieles lässt sich auch gar nicht in Zahlen ausdrücken: Wieviel ist ein alter Baum wert? Was kostet eine Kindheitserinnerung?

Doros Mutter kommt nicht oft nach Berverath. Ihr wie vielen insbesondere älteren Menschen ist zunächst der Verkauf ihrer Häuser sehr schwergefallen. Nun setzt es ihnen zu, dass die Dörfer, in denen ihre Familien teilweise seit Generationen gelebt haben, doch nicht weggebaggert werden. Denn das wirft die Frage auf, ob man nicht hätte ausharren und dadurch das alte Zuhause retten sollen. Wie soll man es nun aushalten, dass vielleicht andere Menschen in das Haus einziehen, das man schweren Herzens aufgegeben hat? Einigen derjenigen, die gegangen sind, wäre es daher am liebsten, dass das Alte abgerissen wird, um einen Schlussstrich ziehen zu können. Deshalb fordern sie auch, den Zusatz „neu“ bei dem Namen des Neubaugebiets zu entfernen, in das sie gezogen sind, berichtet Doro. Es soll nur noch ein Berverath geben und zwar das, in dem sie nun leben.

Vom Ahrtal nach Berverath

Doch das alte Berverath bleibt bestehen. Die meisten seiner Häuser gehören allerdings noch immer RWE. Bis zur Wiederbelebung ist es daher noch ein weiter Weg. Die Stadt Erkelenz setzt sich vor allem für die Neubausiedlung ein. Die alten Dörfer werden vernachlässigt. Nachdem die Bewohner:innen größtenteils weggezogen sind, die Kirchen entweiht und die Toten umgebettet wurden, scheint man die Dörfer aufgegeben zu haben. Es gibt keine Investitionen in die Infrastruktur mehr. Dennoch wohnen derzeit um die hundert Menschen in Berverath, schätzt Doro. Die Hälfte davon seien Bewohner:innen, die geblieben oder bereits zurückgekehrt sind, die andere Hälfte Flüchtlinge, größtenteils aus der Ukraine. Außerdem – bittere Ironie der Geschichte – wurden Opfer der Klimakrise an den Ursprung der Klimakrise verfrachtet: Denn auch Betroffene der Flutkatastrophe im Ahrtal sind in leerstehenden Häusern in Berverath und den umliegenden Dörfern untergebracht worden.

Bis Jahresende gibt es eine Rückkaufoption, von der 35 ehemalige Einwohner:innen der fünf geretteten Dörfer auch gerne Gebrauch machen würden, erzählt Doro. Sie selbst möchte eine Wiese von RWE zurückkaufen, damit die Ponys mehr Platz haben. Da die Wiese früher ihrer Mutter gehörte, hat sie sich das Vorkaufsrecht gesichert. Vielleicht kann sie dann auch wieder Reittherapie anbieten und Kindergeburtstage mit Ponyreiten ausrichten. Viele der Weggezogenen hätten allerdings Kredite für ihre neuen Häuser aufnehmen müssen, weil die Abfindung von RWE nicht genügt habe, und können jetzt nicht einfach ihr altes Haus wieder zurückkaufen. Außerdem seien viele Häuser inzwischen in einem stark renovierungsbedürftigen Zustand und der Rückkauf sei an Auflagen gebunden. „Die Häuser müssen zum Beispiel wärmeisoliert werden“, erklärt Avril. „Sonst kann der Kauf rückabgewickelt werden. Aber das können sich nicht alle leisten.“

Die leeren Dörfer wiederbeleben

Und dann ist es so, dass RWE weiterhin Grundstücke in den Dörfern rund um den Tagebau Garzweiler II aufkauft. Das bedrohte schließlich auch den Schwalbenhof. Ende 2021 wurde klar, dass der Eigentümer verkaufen würde. So entstand die Idee, eine Genossenschaft zu gründen, um den Hof zu erwerben, bevor er RWE in die Hände fällt. Dafür kooperierte die Genossenschaft mit der Stiftung trias, die Dreiviertel des Kaufpreises übernahm und den Hof seither per Erbbaurecht an die Genossenschaft verpachtet. Grund und Boden ist damit dauerhaft gegen Weiterverkauf und Spekulation abgesichert und das Eigentum an den Gebäuden liegt qua Erbbaurecht bei der Anna Kante eG, die den Hof an eine sehr aktive Bewohner:innengemeinschaft vermietet. Die Stiftung medico unterstützte den Kauf mit einem Darlehen.

Nach einer Phase der Erschöpfung im Anschluss an die Zerstörung Lützeraths und die Rettung der anderen Dörfer ist der Schwalbenhof inzwischen wieder zu einem Ort geworden, an dem Aktive zusammenkommen und darüber beraten, wie ihre gemeinsame Zukunft in der Region aussehen soll. Viele Bewohner:innen – manche sprechen von „Hinterbliebenen“ – der vor dem Tagebau Garzweiler II geretteten Dörfer Keyenberg, Berverath, Kuckum, Oberwestrich und Unterwestrich treffen sich hier, um solidarische und klimagerechte Visionen für die Zukunft ihrer Orte zu entwickeln. Auch weil andere Räume für Zusammenkünfte wie zum Beispiel Gemeindehäuser nicht mehr in Betrieb sind, nachdem sie von RWE dicht gemacht wurden, erfüllt der Schwalbenhof als Treffpunkt wieder eine sehr wichtige Funktion in der Region und darüber hinaus.

Während meines Besuchs an einem heißen Tag Anfang Juli ist viel los. Der Verein „KulturEnergie – Dörfer der Zukunft“ kommt auf dem Hof zu einer Sitzung zusammen. Er hat es sich zum Ziel gesetzt, mit Infrastrukturmaßnahmen vom Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs über die gemeinschaftliche Nutzung von leerstehenden Bestandsgebäuden bis zum mobilen Gemüsewagen die verlassenen Dörfer wiederzubeleben. Anders als bei den offiziellen Beteiligungsverfahren strebt der Verein bei der Wiederbelebung der Dörfer einen Prozess an, der tatsächlich partizipativ ist. Eine seiner Ideen – die Errichtung eines „Demenzdorfes“ in einer ruhigen Straße in Keyenburg – wurde im vergangenen Jahr vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung mit einem Preisgeld von 20.000,- Euro ausgezeichnet. Am Tag meines Besuchs mit dabei sind Vertreter:innen des Nell-Breuning-Hauses, einem Tagungsort mit demokratischem, sozialem und integrativem Anspruch in Herzogenrath. Ab September möchten sie einen der Räume auf dem Schwalbenhof als Begegnungscafé und Kulturzentrum mitnutzen.

Zukunft gestalten inmitten der Klimakrise

Um den Schwalbenhof herum hat sich zudem ein Unterstützer:innenkreis aus zehn bis fünfzehn Personen gebildet, die sich einmal im Monat treffen und gemeinsam mit den Bewohner:innen auf dem Hof arbeiten. Doro führt mich in einen großen aber noch kargen Raum gleich neben dem Eingangstor. Hier soll es am nächsten Tag losgehen mit Renovierungs- und Gestaltungsarbeiten, damit der Raum bald als „Kulturscheune“ genutzt werden kann. Die Anna Kante eG hätte gerne noch weitere Immobilien und Grundstücke erworben und damit dem Markt entzogen, um auf solidarische und basisdemokratische Weise die zerstörte Natur und Kulturlandschaft im Rheinischen Braunkohlerevier wiederzubeleben. Das wird jedoch finanziell und personell nicht zu stemmen sein. „So ist das leider mit den Fokus-Themen und ‚Brennpunkten‘“, erklärt Marie Hofmann von der Genossenschaft bedauernd. „Der Kohleausstieg ist für die meisten Menschen erledigt. Alles was jetzt folgt, wird umso mühsamer.“ Für den Schwalbenhof wird es aber eine Lösung geben. Der von den Hofbewohner:innen gegründete Verein wird in den Erbbaurechtsvertrag eintreten und die Zukunft des Hofes so sicherstellen. Inmitten der sich zuspitzenden Klimakrise können dadurch in dieser von vielen bereits aufgegebenen Gegend ökologisch und sozial zukunftsfähige Formen des Lebens und Arbeitens erprobt werden.

Die medico-Stiftung unterstützt den Schwalbenhof in Berverath mit einem verzinsten Erstrangdarlehen, das über die befreundete Stiftung trias abgewickelt wird. Mit trias zusammen fördert die Stiftung außerdem sozial-ökologische Wohnprojekte in Osnabrück und Mannheim. Mit den Zinserträgen aus den hier geschlossenen Erbbau- und Darlehensverträgen kann die Stiftung wiederum die Arbeit der medico-Partnerorganisationen im Globalen Süden unterstützen.