Neue Möglichkeiten
Seit Anfang 2019 ist Thomas Gebauer Sprecher der Stiftung. Ein Interview über die Entwicklung der Stiftung und die neuen Möglichkeiten, die sich mit dem medico-Haus eröffnen.
Die medico-Stiftung hat den Bau des medico-Hauses realisiert und auch die Zuwendungen an den Verein kontinuierlich erhöhen können, 2018 auf über 300.000 Euro. Wie ordnest du diese Entwicklungen ein?
Offensichtlich haben wir einiges richtiggemacht. Und mit „wir“ meine ich alle, die sich für die Stiftung eingesetzt haben – Kolleginnen und Kollegen von medico, die Mitglieder des Vorstandes und des Kuratoriums. Sie alle bringen, überzeugt von den Zielen von medico, ihre Fähigkeiten, zum Teil auch ihre Prominenz ein. Aber natürlich ist der Erfolg in erster Linie denen zu verdanken, die die Stiftung mit ihren kleinen oder großen Zustiftungen dahin gebracht haben, wo sie heute steht. Der Bau des medico-Hauses war eine herausfordernde Unternehmung. Es ging ja nicht nur um Anlagestrategien und komplexe Finanzierungsfragen. Wir wollten ein Gebäude schaffen, das zu medico passt. Der Umzug erfolgte im Oktober 2017. Richtig durchgeatmet aber habe ich erst bei unserem Neujahrsempfang Anfang 2018. Alle Verträge waren geschlossen, das Erdgeschoss fertiggestellt, die Etagen waren bezogen und vieles hatte sich bereits eingespielt. Mit dem Empfang haben wir das Haus „eingeweiht“ und der Öffentlichkeit vorgestellt. Dann kam das Sommerfest im August 2018, das wir gemeinsam mit den anderen Mietern im Hause sowie bedeutenden kulturellen Einrichtungen aus der Nachbarschaft veranstaltet haben. Da wurde uns klar, welche Kraft am neuen Ort im Frankfurter Osthafenviertel liegt.
Du hast immer betont, dass das medico-Haus mehr sein soll als ein Bürogebäude.
Mit dem Haus verfügen wir nun über einen Ort, an dem sich medico präsentieren und seine Haltungen und Positionen in öffentlichen Debatten überprüfen kann. Ich sehe in der Veranstaltungsfläche, die im Erdgeschoss entstand, eine Bühne für emanzipatorische Praxis. Und wie gut das klappt, haben die vielen gut besuchten Veranstaltungen gezeigt, die medico im Laufe des Jubiläumsjahres im neuen Haus organisiert hat. Neue Kontakte und Kooperationen entstanden und sie werden in dem Maße wachsen, wie künftig andere Initiativen die Räumlichkeiten nutzen. Inzwischen haben hier bundesweite Treffen von Flüchtlingsinitiativen und Nicaragua-Gruppen stattgefunden, auch die Brasilien-Koordination tagte hier. Dabei kommt uns zugute, dass Frankfurt zentral gelegen und gut erreichbar ist.
Welche neuen Möglichkeiten bieten sich der Stiftung?
Natürlich wollen wir die eigenen Räumlichkeiten auch für Veranstaltungen nutzen, zu denen die Stiftung einlädt. Ich denke zum Beispiel an unser jährliches Stiftungssymposium. Dank des medico-Hauses ließe sich dieses auf zwei Tage erweitern, so dass mehr Raum für informelle Gespräche und Begegnungen mit und zwischen unseren Fördermitgliedern entsteht, eine Art politische „Jahreshauptversammlung“. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass die Stiftung den Verein über die Symposien hinaus mit eigenen Formaten dabei unterstützt, einen Resonanzraum für die Frage zu schaffen, was mit einer solidarischen Lebensweise unter Bedingungen globalisierter ökonomischer und politischer Verhältnisse gemeint sein kann. Wie sieht eine Gegenwelt zur imperialen Lebensweise aus? Das steht meines Erachtens heute ganz oben auf der Tagesordnung.
Ist es das, was du meinst, wenn du von einem „utopischen Raum“ sprichst?
Schon in der ersten Stiftungs-Broschüre, die eine Art Gründungsakte der Stiftung darstellte, wurde das übergeordnete Ziel benannt: die Stärkung alternativen Handelns im globalen Raum. Dazu bedarf es der Kritik an den bestehenden Verhältnissen und der praktischen Solidarität mit unseren Partnern in aller Welt, die auf Veränderung drängen. Kritik darf sich aber nicht darin erschöpfen, die Schlechtigkeit der Welt zu konstatieren. Sie muss sich auch der Frage annehmen, wie eine andere Form der Globalität Gestalt annehmen kann. Was wir dem Elend der Welt entgegensetzen wollen, ist eine politisch verstandene Projekt- und Öffentlichkeitsarbeit, die die Verhältnisse nicht nur kritisiert, sondern zugleich belegt, dass es auch anders geht. Dass die Idee einer solidarischen Welt jenseits von ökonomischer Ausbeutung und Verwaltungsmacht schon heute in den Projekten unserer Partner konkret aufscheint. Noch im Moment der größten Katastrophe halten sie an der prinzipiellen Möglichkeit einer Befreiung aus Not und Unmündigkeit fest. Es geht also darum, einen Debattenraum zu schaffen, der das Handeln im globalen Raum sichtbar macht. Nur unter Maßgabe dieses Nachweises verwandelt sich die Forderung nach einer menschenwürdigen Welt aus einer abstrakten in eine konkrete Utopie.
Zum Jahreswechsel hast du deine Tätigkeit als Geschäftsführer des Vereines abgegeben und konzentrierst dich nun auf die Stiftung.
Hier kommen mehrere Entwicklungen zusammen. Die eine ist der Generationenwechsel, der sich derzeit im Verein und so auch auf seiner Leitungsebene vollzieht, ein Übergang, der notwendig und wünschenswert ist. Die andere ist die gewachsene Bedeutung der Stiftung, die nun in der Lage ist, eine eigene Stelle einzurichten. Und die Arbeit der Stiftung ist ja noch lange nicht getan. Gerade das strategische Handeln, mit dem wir der in der Welt um sich greifenden Irrationalität nachhaltig wirksam werdende Inseln der Vernunft entgegensetzen wollen, muss weiter ausgebaut werden. Dazu wünschen wir uns weitere Stifterinnen und Stifter, die in der medico-Stiftung die Chance für ein sinnvolles Engagement sehen.
medico wächst und wächst, während die Welt immer weiter aus den Fugen zu geraten scheint. Wie ordnest du das ein?
Es macht nur deutlich, mit welch langfristigen Prozessen wir es zu tun haben: Es ist unbedingt notwendig, Menschen in Not jetzt zur Seite zu stehen. Und es ist gleichzeitig unbedingt notwendig, dem Elend mit langfristigen Strategien zu begegnen. Ein Leitmotiv bei medico lautet: Veränderung braucht Mut, solidarisches Handeln – und einen langen Atem. Genau das drückt sich in der Konstruktion von Verein und Stiftung aus. Es ist sehr gut möglich, dass wir Veränderungen, die wir uns wünschen, in unserem Leben nicht mehr erfahren. Aber die auf Dauer angelegte Stiftung steht genau für ein Engagement, das darauf zielt, dass die Welt irgendwann einmal anders sein wird.
Die Fragen stellte Christian Sälzer